29 Mai “Das Schöne ist – trotzdem verspüre ich Energie für Neues”
Im Gespräch mit unserer Gastautorin Kathrin Fechner – zu ihrer persönlichen Gesundheitsbiografie, dem Umgang mit Krisen und der Liebe zum Leben. Danke für die unglaubliche Offenheit!
Kathrin Fechner ist Rheinländerin in Stuttgart, außerdem leidenschaftliche Schreiberin zu vielen Themen, die sich insbesondere aus ihrem turbulenten Familienleben mit 3 pubertierenden Söhnen, ihrer Sportbegeisterung und ihrer persönlichen Gesundheitsbiografie ergeben. Über letztere schreibt sie unregelmäßig regelmäßig in ihrem blog „fressbefreit“. Kathrin leistet glücklich Hintergrundarbeit im kirchlichen Dienst.
Frau Fechner, welches Thema steht im Zentrum Ihres Blogs und wen wollen Sie mit Ihren Beiträgen erreichen?
Die Themen sind klar umrissen: Ich beschäftige mich mit Essstörungen und den begleitenden Erkrankungen wie bspw. Depressionen oder Angststörungen. Ich will erklären, dass es sich um Suchterkrankungen handelt, die sich nicht ‚mal eben‘ ablegen lassen.
Gleichzeitig will ich explizit dazu beitragen, diese Themen zu platzieren, sie dabei aus dem Peinlich-Verborgenen holen. Ich möchte aufklären und ja, auch aufrütteln. Außerdem will ich die Öffentlichkeit mit Missständen konfrontieren.
So ist Ernährungsberatung für betroffene essgestörte Menschen nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen enthalten oder wird nur einmalig bezuschusst. Verhaltenstherapie läuft nach 60 Sitzungen aus. Beides sind m.E. wesentliche Bausteine im Prozess der Gesundwerdung und müssen über Jahre in Anspruch genommen werden. Essgestörte Patienten sind also Selbstzahler. Was macht jemand ohne entsprechende finanzielle Mittel?
Primär schreibe ich für andere Betroffene. Ich will Wege aufzeigen, welche Unterstützung möglich ist oder wie mit einem Rückfall umgegangen werden kann. So verschieden die Krankheitsbilder und -verläufe sind, so ähnlich sind die Gefühle, Bedürfnisse und Konsequenzen: Betroffene werden sich mit einzelnen Situationsbeschreibungen identifizieren können. Gerne würde ich mit meinen Texten auch dazu beitragen zu verhindern, dass jemand in die Essstörung rutscht. Wichtig: Nachmachen lohnt sich nicht, der Preis ist viel zu hoch!
Dabei grenze ich mich ab von Pro Ana- oder Pro Mia-Inhalten etc.; ich schreibe keine Anleitung, wie frau oder man sich zugrunde richten kann. Klar ist auch: Ich kann nur über mich selbst schreiben, das ist meine eigene Geschichte.
Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Geschichte öffentlich zu machen?
Schon mit Anfang 20 wusste ich, dass ich krank bin; mehrfach begab ich mich in Therapie. Phasenweise ging es mir besser, aber frei war ich nie. Beim aktuellen Versuch, mehr über meine Krankheiten zu lernen, habe ich viel recherchiert. Die Ausbeute war trotz Masse gering: Die Protagonistinnen sind meist sehr jung, ich fand mich nirgendwo wieder, obwohl wirklich viel autobiografisches Material existiert. Ratgeber gibt es ebenso reichlich. Ich lebte aber schon mit Familie und Beruf einen fordernden Alltag, als ich an meiner Krankheit zerbrach.
“Mein bulimisches Ich lebte ich diskret”
Mein größter Fehler wurde mein größtes Problem: Mein bulimisches Ich lebte ich diskret. Ich hatte mich niemandem anvertraut, meinem Mann nicht, keiner Freundin, nicht meiner Schwester, schon gar nicht den Eltern. Annäherungsversuche und Sorge von außen schmetterte ich ab. Die perfekt funktionierende Kathrin, die gab es wirklich – das war keine Fassade, das war auch Ich. Nur: Ich wurde darüber verbissen, zwanghaft und panisch, klapperdünn, kraftlos, sport- und jobbesessen, ich erbrach (heimlich natürlich) ständig und, das Schlimmste, ich war meinen Kindern nicht mehr zugewandt. Zu dem Zeitpunkt fehlte mir jede Übung, mich mitzuteilen.
Die Scham, die Verzweiflung über meinen Zustand hat mich damals fast umgebracht und mir alle Worte genommen.
Erst in der Notaufnahme der Psychiatrie begann ich mit dem Erzählen, es war unendlich schwer und insgesamt ein sehr, sehr langwieriger Prozess. Noch heute schreibe ich lieber, als dass ich das Gespräch suche. Darum kommen mir Ihre Fragen per eMail sehr entgegen. Kurzum: Ich glaube, ich fülle mit meinem Blog eine Lücke. Für all‘ diejenigen, denen auch die Worte fehlen. Und für mich natürlich, schließlich arbeite ich immer noch gegen das Verstecken.
Haben Sie manchmal Angst, dass die Schilderung Ihrer persönlichen Erlebnisse für Sie zum Nachteil wird? Zum Beispiel bei Ihrem Arbeitgeber oder im Umfeld Ihrer Kinder …
Natürlich. Mein nächstes Umfeld habe ich inzwischen einbezogen in meinen ‚Befreiungsprozess‘, was nicht bedeutet, dass meine Offenheit grundsätzlich befürwortet wird. Wenn ich meine Symptome im Einzelnen beschreibe, kann es eklig werden. Das ist für Manche schwer zu ertragen, so dass ich Fremdschämen spüre: Jemand schämt sich für das, was ich tue (meine psychische Erkrankung und ihre Symptome) oder für mein Aussehen (für die Gewichtszunahme oder meine Zähne) und dass ich genau dies alles außerdem in Worte fasse. Damit provoziere ich durchaus.
“Auch Diabetiker sind chronisch krank!”
Auf der anderen Seite habe ich noch niemanden getroffen, der mich jetzt als Mensch ablehnt. Meine Offenheit schafft eher Verständnis als Abwertung. Ich weiß, dass ich chronisch krank bin. Diabetiker beispielsweise sind das auch. Wo ist der Unterschied?
Sie scheuen die Auseinandersetzung mit Ihren Tiefen und Rückschlägen nicht. Wie finden Sie für sich selbst immer wieder den Mut, dranzubleiben? Oder sogar neu anzufangen?
Doch, ich scheue die Auseinandersetzung durchaus. Ich bin auch nicht immer mutig. Und ich brauche viel Zeit, ich bin eine langsame Arbeiterin, was mein Innerstes angeht. Dranbleiben heißt für mich, mein oberstes Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Ich will raus aus der Sucht, raus aus dem Zwang, ich will ein Leben leben und mich der Sucht nicht (nicht mehr, am liebsten niemals mehr) beugen. Leider katapultiert mich jede Krise stets zurück in alte Verhaltensmuster. Dann scheint der Berg zu hoch, der Weg zu weit. Hier die Muster zu durchbrechen, ist die Maxime.
Darum muss ich kleinschrittig an mir arbeiten: Als ich nach eineinhalb symptomfreien Jahren wieder zu erbrechen begann, habe ich mich dafür verachtet und bin genau dadurch noch tiefer in meine Suchtspirale eingestiegen. Allerdings ist meine Angst vor der absoluten Verzweiflung, der tiefen Erschöpfung und der allumfassenden Depression enorm. Hinzu kommt mein Wissen über die körperlichen Schäden, die ich inzwischen davon getragen habe oder die mir drohen, und damit verbunden die Angst vor Schmerzen.
“Ich gehe auf Abstand zu mir selbst!”
Mit diesem Wissen im Nacken schaffe ich es, auf Abstand zu mir selbst zu gehen, einen Schritt zurück zu treten und mir klar zu machen: Ich hatte einen Essanfall. Ich muss nicht erbrechen. Ich kann das Essen in meinem Bauch aushalten. Oder: Ich habe erbrochen, das ist jetzt so. Es soll bei dem Vorfall bleiben, es muss keine unendlichen Wiederholungen geben. Jeden Vorfall analysiere ich im Hinblick auf Ursache und Wirkung. Mit dem Ergebnis kehre ich zu meinen Standards zurück: Täglich geregelte Mahlzeitenstruktur, Ess- und Wiegeprotokoll, etc.. Wenn ich es nicht schaffe, für mich selbst weiter zu kämpfen, dann tue ich es in Verantwortung für meine Söhne.
Wie geht es Ihnen heute?
Gesund bin ich nicht. Ich übe nach wie vor, meinen Körper anzunehmen. Ich suche noch nach DEM alternativen Ventil bei innerer Not. Doch ich weiß auch, dass ich Vieles gelernt habe: Ich kann inzwischen die Signale meines Körpers verstehen (Appetit, Hunger, Sattsein, aber auch Müdigkeit und Erschöpfung oder Anzeichen einer Depression).
Essengehen mit Freunden oder Kuchen im Büro weiche ich nicht mehr aus, allerdings muss ich alle Essenssituationen mental untersuchen, ganz intuitiv zu essen gelingt mir noch nicht. Die Verführung lauert überall, nach wie vor gibt es Gerichte oder Nahrungsmittel, die ich vermeiden muss. Zum Glück kenne ich inzwischen meine Fallen sehr genau. Manchmal bin ich das ewige Prüfen leid oder ich halte dem inneren Druck nicht Stand, manchmal verliere ich das Maß. Dann setzt der Verstand aus, ich bin (aus-)geliefert. Und dem Erbrechen schnell erschreckend nahe. Darum bin ich bin weiterhin eingebunden in ein therapeutisches Netzwerk.
“Das Schöne ist, trotzdem: Ich spüre wieder Energie für Neues – ich glaube, das ist das Leben”
Welche Bedeutung hat das Thema Glaube für Sie?
Ich habe viele Monate in Krankenhäusern verbracht. Schon bald wurde ein für mich heilsamer Ort die jeweilige Klinikkapelle, dieser Raum der Stille für alle Konfessionen. Irgendwann suchte ich Rat bei den Seelsorgern und spürte, welche Kraft ich aus den Gesprächen, einer neuen Perspektive und gemeinsamen Gebeten oder einem Segenswunsch ziehen konnte. Ich zweifle viel, ich bin auch wütend auf meinen guten Gott, dass er mich leiden lässt. Warum hat er zugelassen, dass ich dem Suizid so nahe kam? Diesem bodenlos elenden Gefühl, das ich niemals mehr erleben möchte. Warum lässt er sie nicht enden, meine Suchtspirale, obwohl ich seit Jahren daran arbeite?
“Und doch: Mein Weg ging immer weiter, irgendwie. Vielleicht hat er die Hand über mich gehalten.”
Was verbindet Sie mit den Evangelischen Frauen in Württemberg?
Die Frauen! Ich bin ihnen auf verschiedenen Veranstaltungen begegnet und sehr beeindruckt von ihrer Arbeit. Einmal durfte ich schon selbst mitgestalten. Darum freue ich mich sehr auf weitere Begegnungen.
Danke, Frau Fechner, für das Gespräch.
Beiträge von Kathrin Fechner im EFW-Blog:
Essstörungen mit Suchtcharakter
Konfirmation? Nö! Gedanken zum Kloß in meinem Hals
Fotos: Kathrin Fechner, pixabay Public Domain
Ronald
Veröffentlicht um 22:10h, 05 JuniEin tolles Interview, wunderbare Fragen und erhellende Einblicke.
Mirjam Hübner
Veröffentlicht um 08:41h, 06 JuniLieber Ronald, danke für den Kommentar! Wir freuen uns auch über den Artikel – es ist nicht selbstverständlich, dass jemand dazu bereit ist sein Innerstes zu öffnen.