“Streit gehört an Weihnachten mit dazu”

Susanne Bakaus ist Leiterin der Landesstelle der psychologischen Beratungsstellen in der Landeskirche. Die Diplom-Psychologin gibt Tipps für ein erfüllendes Weihnachtsfest, an dem auch Streit seinen Platz hat.

Frau Bakaus, Weihnachten ist traditionell das Fest der Liebe. Warum wird es in vielen Familien zu einer Belastungsprobe für das Miteinander?

An Weihnachten werden wir alle mit tiefen inneren Sehnsüchten konfrontiert: da ist das christliche Bild der heiligen Familie, das trotz Armut und Not Geborgenheit sowie Rettung repräsentiert. Dazu singen die Englein. Das Verlangen nach einer heilen Welt führt häufig dazu, dass wir uns über die Maße anstrengen, um diesem Ideal sicher entsprechen zu können. In der Folge passiert eher das Gegenteil: Wer das Weihnachtsfest mit hohen Idealen überfrachtet, fällt meist tief. Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass viele Menschen in malignen Familienstrukturen leben. Für sie ist der innere Mangel in der dunklen Jahreszeit besonders deutlich zu spüren.

Um es für alle Beteiligten leichter zu machen, plädiere ich für einen gelassenen Umgang mit Konflikten  – gerade an Weihnachten. In meiner Herkunftsfamilie zum Beispiel gab es jedes Jahr Streit um den Tannenbaum. Traditionell besorgte ihn mein Vater und er war nie passend: Zu alt, zu krumm oder die Spitze war nicht recht. Pünktlich zum Kirchgang um 18 Uhr aber wurde der Schalter umgelegt: Der Stress um einen schönen Abend hatte sich im Vorfeld entladen. Das ist in vielen Familien so und somit ein sinnvoller Umgang mit Unstimmigkeiten.

Wenn man in die sozialen Medien blickt, entsteht der Eindruck, dass Frauen in Familienverantwortung aktuell mehr Stress denn je erleben. Da wird wie verrückt gebastelt, dekoriert und gebacken …

Tatsächlich machen auch wir in den Beratungsstellen die Erfahrung, dass die Adventszeit für Frauen sehr belastend ist – besonders für alleinerziehende. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass an Weihnachten bürgerliche Ideale Hochkonjunktur haben. Das klassische Kleinfamilienmodell wird zelebriert und erzeugt viel Druck. Wer sich darin nicht wiederfindet, erlebt rasch ein Gefühl des Scheiterns. Darüber hinaus beginnt bereits im Advent die Zeit des überreichen Konsums, was eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist. Noch vor dreißig Jahren galten die Wochen vor dem Fest als Fastenzeit, um an Heiligabend Fülle erleben zu können. Ich möchte gerne dazu ermuntern, sich bewusst zu machen, dass weniger manchmal mehr ist.

Vor allem Mütter dürfen sich erlauben, die Verantwortung für ein gelingendes Fest mit ihren Kindern zu teilen: Jedes Familienmitglied kann seinen Beitrag zu einem festlich gedeckten Tisch leisten oder dabei helfen, die Küche sauber zu machen.

Ich möchte aber festhalten, dass ich backen, dekorieren oder basteln für wichtig halte – wenn die Menschen Freude daran haben. Wir dürfen und sollen es uns in der Adventszeit schön machen. Es handelt sich schließlich um die dunkelsten Stunden des Jahres.

An Weihnachten ist Zeit für Entschleunigung. Brauchen wir diese im zweiten Corona-Winter tatsächlich noch?

Entschleunigung wird ganz individuell erlebt. Sie kann auch bedeuten, sich von sozialem Druck zu befreien oder den Mut zu haben, auf die eigenen Bedürfnisse zu lauschen. Dafür ist die Corona-Zeit nach wie vor gut geeignet. Vielleicht möchten wir etwas von dieser Besinnung mitnehmen ins neue Jahr? Ferner ist es hilfreich, die Weihnachtstage selbst von Termindruck zu befreien und einzelnen Familienmitgliedern ihren Rhythmus zuzugestehen.

Was raten Sie Menschen, die an Weihnachten alleine sind?

Wer alleine lebt, kann die Zeit nutzen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Das bedeutet zum Beispiel, sich Gutes zu tun – mit Musik, Kerzenschein, Lesen oder Kochen. Aber natürlich ist der Kontakt zu anderen Menschen ebenso wichtig. Wir sollten uns rechtzeitig überlegen, wen wir treffen können, auch außerhalb der Familie. Wollen wir eine Videokonferenz veranstalten? Oder einmal die ältere Nachbarin zu uns einladen und bei einem Fest für Obdachlose mithelfen? Auch das Schenken als Beziehungsgeschehen gewinnt am Weihnachtfest neu an Bedeutung. Alles, was uns aus dem reinen Selbstbezug herausführt, ist hilfreich. Wir brauchen das Gefühl, das Zepter in der Hand zu halten – deshalb ist es wichtig, die Tage im Vorfeld zu strukturieren.

„Ich zünde mir ein Licht an“

Für mich persönlich kommt die frohe Botschaft im alten Kirchenlied „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht traurig sein!“ ganz deutlich zum Ausdruck. Wir haben die Möglichkeit, unsere Rituale so zu gestalten, dass wir uns selbst ein Licht anzünden.

Frau Bakaus, vielen Dank für Ihre Antworten und die wertvollen Tipps!

Mirjam Hübner
Mirjam Hübner
mirjam.huebner@online.de

Mirjam Hübner ist Diplom-Journalistin und Kommunikationstrainerin. Sie berät die Evangelischen Frauen in Württemberg in Fragen der Online-Kommunikation und der Pressearbeit. In ihrer Freizeit wandert und liest sie gerne – am liebsten mehrere Bücher gleichzeitig.

1 Kommentar
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    Saskia Ulmer
    Veröffentlicht um 16:09h, 18 Dezember Antworten

    Danke, das ist ein wertvolles Interview mit vielen entlastenden Aussagen!
    Eine gesegnete Weihnachtszeit an alle.

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