Ritual-Bedarf mit großen Söhne

Wie sich in meinem Alltag mit großen Söhnen plötzlich zeigt, dass genau diese Jungs noch Kinder sind. Wie sehr mich das herausfordert und zugleich beglückt! Ein kleines Beispiel aus unserem Familienleben. 

Nach einem Jobwechsel arbeite ich seit Oktober in anderer Position und vor allem viel mehr als zuvor. Ich stürze mich in die neuen Aufgaben und gehe intensiv darin auf. Viele Jahre in Teilzeit, mit voller Verantwortung für drei meist schulunwillige Söhne und ein Haus mit Garten habe ich gestemmt. Gesegnet mit einem Göttergatten, der selbstverständlich morgens ausschläft und dann voll fokussiert auf den Job durch Tag und Abend geht. Okay, das ist die abgekürzte Variante, letztlich stimmt sie allerdings und manifestiert, dass ich und wir in der klassischen Rollenverteilung leben. Diese Jahre für die Familie lasten auf mir, zeigen sich in mancher Falte und den grauer werdenden Haaren, in zusätzlichen Kilos, aber nicht auf meinem Bankkonto.

Darum bin ich jetzt dran: Ich will wieder raus in den Beruf, in mein anderes Leben, ich will wieder neu gebraucht (Hah! Was für ein Wortspiel.) werden. Ich genieße die Herausforderung, das Vertiefen in Themen, das Herzklopfen bei Unklarheiten, das Arbeiten-bis-ich-fertig-bin-Gefühl, sogar die Eile und den Druck oder die fachlichen Auseinandersetzungen. Trotzdem bin ich in erster Linie leidenschaftliche Mutter. Also ging die Mutter morgens sehr früh aus dem Haus, um nachmittags für die Söhne da zu sein. So war’s besprochen und vereinbart und klappte wunderbar, dachte ich.

Bis der jüngste Sohn nach wenigen Wochen mit Tränen in den Augen mitteilte, das ginge so überhaupt nicht. Der Große stimmte zu und sogar der Mittlere rang sich ein Nicken ab. Die Ursachenforschung für die sich Bahn brechende Traurigkeit nahm einige Zeit in Anspruch und bedurfte großer Nähe und Ruhe. Das Ergebnis: Mein neuer Arbeitsrhythmus brach mit einem Ritual. Ein Ritual, das unbewusst entstand und sich in all den Jahren ganz, ganz fest in unseren Herzen installiert hat. Es ist nämlich so: Ich habe bisher nie vor meinen Söhnen das Haus verlassen. Und jetzt? Plötzlich war ich morgens nicht mehr da, scheinbar eine Kleinigkeit. Das war zwar vereinbart, aber dann auch tatsächlich der Fall, was den Start in den Tag für meine Söhne völlig veränderte.

Seither gehe ich wieder später aus dem Haus. Ich knutsche Sohn 1 noch in Jogginghose und Fleecejacke mitten auf der Straße. Auch Sohn 2 schicke ich mit einem dicken Kuss auf die Wange los. Beim Knutscher für Sohn 3 bin ich fertig angezogen. Mit jedem von ihnen trete ich vor die Tür, höre nochmals zu, halte Sportbeutel oder Fahrradlichter und gebe ihnen meine Energie mit, so nennen wir das, umarme sie kurz. Dann erst beginnt für sie also der (Schul-)Tag. Kürzlich war mein jüngster Sohn morgens wütend auf mich und fuhr los ohne seinen Abschiedskuss. An der Ampel drehte er um, rief mich zurück, und sammelte die Umarmung doch noch ein…

Dann erst mache ich mich selbst auf den Weg. Natürlich komme ich nun viel später nach Hause, der Tag ist dann beinahe vorbei. Wie sagte mein Sohn: „Nachmittags brauche ich dich nicht so sehr. Aber morgens.“ Und ich stelle fest, dass mir selbst unser Ritual sehr gefehlt hat. Jetzt fühle ich mich wieder mehr eingebunden in unseren Familien-Kosmos, unsere Bindung ist spürbar. Demütig und dankbar nehme ich wahr, dass wir zusammen gehören und dass doch jeder seiner Wege gehen darf. Das ist schön.

K Fechner
Kathrin Fechner
fressbefreit@gmail.com

Kathrin Fechner ist Rheinländerin in Stuttgart, außerdem leidenschaftliche Schreiberin zu vielen Themen, die sich insbesondere aus ihrem turbulenten Familienleben mit 3 pubertierenden Söhnen, ihrer Sportbegeisterung und ihrer persönlichen Gesundheitsbiografie ergeben. Kathrin leistet glücklich Hintergrundarbeit im kirchlichen Dienst.

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