Discovering hands: Dem Brustkrebs keine Chance geben!

Eine von acht Frauen in Deutschland erhält im Laufe ihres Lebens die Diagnose Brustkrebs. Jährlich erkranken rund 70.000 Frauen bundesweit. Die Brustkrebsfrüherkennung kann Leben retten. Zum Brustkrebsmonat Oktober haben wir das Sozialunternehmen discovering hands zur erweiterten taktilen Diagnostik befragt.

Dr. Frank Hoffmann, Frauenarzt und Gründer von discovering hands – einem vielfach mit Auszeichnungen bedachten innovativen Sozial- und Integrationsunternehmen.

 

Wie ist die Idee zu discovering hands entstanden? Welchen Herausforderungen sahen Sie sich bei der Gründung der Initiative gegenüber?

Dr. Frank Hoffmann, niedergelassener Frauenarzt in Duisburg, wollte die Brustkrebsfrüherkennung verbessern. Wie alle Fachärzte hat(te) er bei der jährlichen Vorsorgeuntersuchung nur wenige Minuten Zeit, die Brust der Patientin abzutasten. Er war unsicher, ob das wirklich gründlich genug ist, um die Gewissheit zu erlangen, alle tastbaren Tumore aufzuspüren. Ihm kam die Idee, den weit überlegenen Tastsinn blinder und stark sehbehinderter Frauen für die Brustkrebsfrüherkennung einzusetzen. Das war 2006 die Ursprungsidee. Das Sozial- und Integrationsunternehmen discovering hands hat er 2011 gegründet.

Curricula mussten entwickelt werden, blinde Frauen gefunden werden, die Kostenübernahme für die Umschulung bei Reha-Trägern „durchgeboxt“ werden, Partner gefunden werden: Berufsbildungsstätten für Sehbehinderte, Krankenkassen, welche die MTU-Untersuchung bezahlen, Gynäkologen, die mit MTUs zusammen arbeiten wollen, Unis, die Studien zur Taktilographie (TBU) durchführen usw..

Skeptische Fachkolleg*innen gilt es bis heute, von der Wirksamkeit der Methode zu überzeugen.

Was genau macht eine MTU (Sehbehinderte Medizinisch-Taktile Untersucherin) bei discovering hands?

MTU üben einen medizinischen Assistenzberuf aus, in dem sie ihre besondere Begabung einsetzen: Blinde und stark sehbehinderte Menschen verfügen über einen weit überlegenen Tastsinn. Aufgrund dieser Fähigkeit verbessern qualifizierte MTU die Brustkrebs­früherkennung nachhaltig. Sie führen die von discovering hands entwickelte Brusttastuntersuchung namens Taktilographie durch.

Welche Vorteile bietet die Untersuchung? 

Die MTU nimmt sich bis zu einer Stunde Zeit für jede Patientin, was Ärztinnen und Ärzte im Praxisalltag nicht können. Die Atmosphäre ist persönlich, und Frauen, die sich scheuen, sich vor einem Arzt auszuziehen, empfinden eine (fast) blinde Frau als Gegenüber als vorteilhaft. Das Wichtigste: MTU ertasten circa 30 Prozent mehr und um 50 Prozent kleinere Gewebe­veränderungen als Ärzte. Die Taktilographie kann viele wissenschaftlich belegte Erfolge vorweisen, darunter eine Studie des renommierten Brustzentrums der Universitätsklinik Erlangen.

Wie läuft die Untersuchung genau ab?

Die MTU erhebt zunächst eine Anamnese und untersucht dann die erst sitzende, später liegende Patientin sehr gründlich 30 bis 50 Minuten lang, je nach Brustgröße: Sie tastet die Lymphregionen und dann beide Brüste zentimeterweise in drei Tiefenschichten ab. Die MTU orientiert sich dabei an selbstklebenden patentierten Taststreifen, die eine Art Koordinatensystem bilden. Fast alle Patientinnen empfinden die Taktilographie als angenehm und schmerzfrei. Während der Untersuchung können sie der MTU individuelle Fragen rund um die Brustgesundheit stellen. Eine MTU findet bei ihrer Untersuchung Auffälligkeiten im Gewebe, kann also nicht „Krebs tasten“. Für die abschließende Diagnose arbeitet sie im Teamwork mit dem Facharzt: Dieser bewertet die erhobenen Befunde und kann damit eine sicherere Diagnose stellen. Falls erforderlich, führt er einen Ultraschall durch oder leitet eine weitergehende Diagnostik ein. In der Regel findet die MTU aber nichts Auffälliges oder aber eine harmlose Gewebeveränderung, für die der Arzt dann direkt Entwarnung geben kann.

An wen richtet sich das Angebot und wie oft sollten Frauen Leistungen zur Brustkrebsvorsorge in Anspruch nehmen? 

Die Taktilographie empfehlen wir Frauen jeden Alters, auch jungen Frauen, sobald sie die Pille nehmen. Wir raten dazu, für eine bestmögliche Früherkennung alle Untersuchungen zu kombinieren: die monatliche Selbstuntersuchung der Brust, die jährliche Taktilographie im Rahmen der Vorsorge beim Facharzt, und im entsprechenden Alter die Teilnahme am Mammografiescreening. Die strahlungsfreie Taktilographie kann und soll die bildgebende Diagnostik, zu der auch Ultraschall zählt, nicht ersetzen, sondern ergänzen. Manche Frauen, die die Mammografie ablehnen, finden die Taktilographie jedoch für sich besonders wichtig. discovering hands kooperiert deutschlandweit mit bereits mehr als 100 Arztpraxen und Kliniken. Jede Frau kann die Taktilographie (zumeist) wohnortnah in einer Partnerpraxis wahrnehmen, ohne dort Patientin zu sein. Auch Männer erkranken in seltenen Fällen an Brustkrebs. Wer familiär vorbelastet ist, kann sich von einer MTU untersuchen lassen.

Die Kugelkette zeigt, in welcher Größe Frauen Gewebeveränderungen selbst in ihrer Brust tasten können (große Kugel), in welcher Ärzt*innen (mittlere Kugeln) und in welcher Medizinisch-Taktile Untersucherinnen (rosa Kugeln, ab fünf Millimeter).

 

Was können Frauen zwischen den Vorsorgeuntersuchungen tun, wenn sie sich unsicher sind?

Eine sehr wichtige Säule der Früherkennung ist das monatliche Abtasten der eigenen Brust.

Es gibt viele erprobte Anleitungen, etwa MammaCare. Auch unsere MTU als Tastexpertinnen sind inzwischen mit einem eigenen Konzept, welches sich an der Tasttechnik der MTU orientiert, qualifiziert für die Anleitung zur Taktilen Selbstuntersuchung. discovering hands hat neben der Taktilographie als zweites Modul diese „ATS“ entwickelt. Die ATS ist eine einstündige individuelle Einzelschulung an der Brust der Teilnehmerin. Von discovering hands zertifizierte MTU führen die ATS in Arztpraxen und in kooperierenden Fitnessstudios durch, die auch Gesundheitsvorsorge anbieten.

Die geschulten Frauen können die Selbstuntersuchung später regelmäßig selbst systematisch durchführen. Bei der ATS können sie individuelle Fragen oder anatomische Besonderheiten besprechen. Jede Teilnehmerin erhält zudem ein ausführliches Gesundheitsbuch für Zuhause.  Es fasst die wichtigsten Schritte der ATS in Bildern und Texten zusammen.

Motiviert durch die Gegebenheiten der Corona-Pandemie hat discovering hands auch eine digitale Version dieser Schulung entwickelt: Bei der d-ATS erhält eine Gruppe von Interessentinnen die Anleitung zur Selbstuntersuchung über ein geschlossenes Webportal. Dieses Angebot ist auch für Unternehmen von Interesse, die z.B. ihren Mitarbeiterinnen im home office eine sinnvolle Vorsorgemaßnahme anbieten wollen.

Ersetzt die Selbstuntersuchung die Vorsorgeuntersuchung durch medizinisches Fachpersonal?

Nein. Die Selbstuntersuchung und die Untersuchungen durch Spezialisten – Facharzt und MTU – bieten zusammen die bestmögliche Früherkennung. Frauen, die sich monatlich selbst abtasten, werden zwar zu Expertinnen ihrer eigenen Brust und erkennen Veränderungen immer besser, aber sie können keine Diagnose stellen und verfügen nicht über die exzellente Tastfähigkeit der sehbehinderten MTU. Frauen, die bei sich Ungewöhnliches oder Schmerzhaftes tasten, sollten zeitnah ihren Facharzt oder ihre MTU aufsuchen.

Muss eine MTU eine spezielle Ausbildung durchlaufen? Findet eine Qualitätssicherung statt?

Eine MTU durchläuft eine neun- bis zehnmonative Qualifizierung und legt danach eine Abschlussprüfung vor Fachärzten ab. Im Anschluss wird ihre Tastfähigkeit jährlich überprüft.

Werden die Kosten für die Untersuchung von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen?

Aktuell werden die Kosten von allen privaten Krankenkassen und 29 gesetzlichen Kassen übernommen.

Wie rekrutieren Sie die MTU?

Wir haben eine gut vernetzte Recruiterin, machen viel Öffentlichkeitsarbeit, sind oft in den Medien, kooperieren mit Blindenverbänden und mehr. Und wir setzen darauf, dass Menschen, die gute Erfahrungen mit MTU gemacht haben, anderen davon erzählen und auf diese Weise auch blinde und sehbehinderte Frauen von diesem einzigartigen und sinnstiftenden Beruf erfahren.

Der Blick in die Zukunft: wo sehen Sie die Initiative in fünf Jahren?

Unser Ziel ist, in Deutschland 200 MTU zu beschäftigen, damit jede Frau wohnortnah die Taktilographie und die ATS in einer kooperierenden Praxis oder Klinik wahrnehmen kann. Derzeit sind es 43 aktive MTU und 14 in Ausbildung, weitere Kurse sind in Vorbereitung. Wann wir die 200 erreichen, lässt sich nicht auf ein Jahr festlegen.

Zudem möchten wir weitere Krankenkassen gewinnen, die die Kosten für die TBU tragen. Zu unserem Ausbildung- und Diagnose-Zentrum in Berlin sollen weitere hinzukommen. Und wir wollen die internationale Expansion per social franchise weiter voranbringen. Es gibt bisher Pilotprojekte in Kolumbien, Mexico, Indien, Nepal, der Schweiz und Österreich.

Und wir wünschen uns weitere Unternehmen, die unsere Leistungen im Rahmen des BGM anbieten und / oder unser gemeinnütziges Unternehmen mit Ausbildungsstipendien und Spenden unterstützen. Unser Einsatz gegen Brustkrebs ist sehr vielfältig!

Vielen Dank dem gemeinnützigen Sozialunternehmen discovering hands für die ausführlichen Antworten, die detaillierten Informationen und die zur Verfügung gestellten Bilder!

Sie möchten sich von einer MTU untersuchen lassen? Nutzen Sie den Praxisfinder von discovering hands. 

Bilder: discovering hands

Mirjam Hübner
Mirjam Hübner
mirjam.huebner@online.de

Mirjam Hübner ist Diplom-Journalistin und Kommunikationstrainerin. Sie berät die Evangelischen Frauen in Württemberg in Fragen der Online-Kommunikation und der Pressearbeit. In ihrer Freizeit wandert und liest sie gerne – am liebsten mehrere Bücher gleichzeitig.

Keine Kommentare

Kommentar schreiben