Guten Morgen, Neid!

Der Neid hat nicht den besten Ruf. Er macht klein und passt nicht zu dem Bild, das wir von uns selbst gerne hätten. Und dennoch schleicht er sich gelegentlich an. Bläht sich auf und nimmt sich Platz in Herz und Gehirn. Gedanken zu einem unbeliebten Gefühl, das auch manchmal seine guten Seiten hat.

Guten Morgen, Neid. Eigentlich SOLLTE ich Dich nicht kennen. Trotzdem stört es mich bisweilen, wenn ich sehe, wie manche Freundinnen Schokolade futtern wie ich saure Gurken und trotzdem kein Gramm zulegen …

Mahlzeit, Neid. Eigentlich SOLLTE ich Dich nicht kennen. Aber wenn ich sehe, wie stylish manche Frauen durch die Innenstadt schlendern, hätte ich doch ganz gerne ein bisschen mehr Modebewusstsein …

Tach, Neid. Eigentlich SOLLTE ich Dich nicht kennen. Trotzdem gibt es da einige Sachen, die andere viel besser können als ich. Zum Beispiel eine so gute Hausfrau sein, dass man schon beim Betreten der Wohnung das Gefühl hat, in einer Ausgabe von „Schöner Wohnen“ zu sein …

Guten Abend, Neid. Eigentlich SOLLTE ich Dich nicht kennen. Woher kommt bloß das bescheuerte Gefühl, anderen fallen die Dinge in den Schoß, für die ich hart arbeiten muss?

Gute Nacht, Neid. Habe ich Dir heute schon gesagt, dass ich Dich eigentlich gar nicht kennen SOLLTE?

Der Neid ist eine gemeine Person
So gesehen ist der Neid eine ganz schön gemeine Person. Meistens kann ich ihn richtig gut verstecken – vor mir selbst und vor allem vor den anderen. Denn er ist kein gern gesehener Charakterzug. Neidisch hat man nicht zu sein, nicht in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unsren. Und schon gleich gar nicht im pietistisch geprägten Stuttgart, der Geburtsstätte der Bescheidenheit. Außerdem macht Neid den Neider klein und nimmt ihm damit seine emotionale Unabhängigkeit – und das mag keine von uns wirklich gerne.

Und trotzdem fokussiert sich der Neid bisweilen auf all das, was ich nicht habe. Ziemlich abgedreht, oder?

Der Unterschied zwischen Neid und Missgunst
Was mir immer hilft, ist mir klarzumachen, dass es einen Unterschied zwischen Neid und Missgunst gibt. Es ist nicht grundsätzlich verwerflich, sich Dinge zu wünschen, die andere Menschen haben und ich selbst nicht. Und schon gleich gar nicht, am Leben der Mitmenschen teilzuhaben. Problematisch wird es erst, wenn ich meinem Umfeld seine Beziehungen, Talente, den Job oder das Aussehen nicht gönnen kann. Es ist etwas anderes, ob ich eine andere Frau um ihr Modebewusstsein beneide oder ihr einen Beinbruch beim Betreten des nächsten Schuhgeschäfts wünsche.

Damit verringert sich die moralische Schwere des Neidgefühls schon ein bisschen.

Neid als Stimulation
Wenn ich ganz bei mir selbst bleibe, spüre ich recht genau, um welche Fähigkeiten ich mein Gegenüber ernsthaft beneide. Es sind meistens die Dinge, denen ich einen echten Wert beimesse. Dann kann der Neid sich in seinem ursprünglichen Wortsinn (germanisch: „Nid“) entfalten: als Anstrengung und Wetteifer. Der stimulierende Neid entwickelt Ideen, wie ich meinem Ziel näher kommen könnte. Und: er zeigt mir auf, ob der gewünschte Zustand eine so große Bedeutung für mich hat wie es auf den ersten Blick scheint. Ist die repräsentable Wohnung Zeit, Geld und Mühen wert? Oder ist sie doch mehr ein „nice to have“ für mich? Danach kann ich mein Handeln ausrichten. Denn: der Versuch, etwas darzustellen, für das ich nicht „geschaffen“ wurde, führt zu Frust, Erschöpfung und dem Gefühl von Versagen.

Zuviel Neid leugnet meine Einzigartigkeit
Auch wenn es banal klingt: ich kann niemals so sein wie jemand anders. Dafür bin ich nicht gemacht. Auch wenn der destruktive Neid mir manchmal ins Ohr flüstert: „Ich muss MEHR haben. Mehr Geld, mehr Verantwortung, mehr Beliebtheit, mehr Schönheit, mehr Freunde!“ Oder auch: „Mehr Ausgeglichenheit, mehr Mut, mehr Reife.“ Wenn ich andere oder meine Ideale zu sehr beneide, werde ich blind für mich und das individuelle Geschenk meines Lebens.

Darum will ich eine gelassene(re) Haltung entwickeln zum Thema Neid. Ihn als das sehen, was er eigentlich ist: ein allzu menschliches Gefühl. Das dann nicht zu viel Macht über mich bekommt, wen ich es ab und an anhöre. Es frage, ob es Aspekte in meinem Leben gibt, deren Entwicklung ich zu wenig Bedeutung beimesse. Und demgegenüber ich mich dennoch nicht geschlagen gebe, wenn es zu mächtig werden sollte.

Fotos: pixabay public domain, pexels public domain

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Mirjam Hübner
Mirjam Hübner
mirjam.huebner@online.de

Mirjam Hübner ist Diplom-Journalistin und Kommunikationstrainerin. Sie berät die Evangelischen Frauen in Württemberg in Fragen der Online-Kommunikation und der Pressearbeit. In ihrer Freizeit wandert und liest sie gerne – am liebsten mehrere Bücher gleichzeitig.

2 Kommentare
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    Regina
    Veröffentlicht um 15:33h, 29 März Antworten

    Du schaffst es immer wieder, meine Gedanken in Worte zu fassen ?

    • Mirjam Hübner
      Mirjam Hübner
      Veröffentlicht um 16:23h, 29 März Antworten

      Danke, liebe Regina. Das freut mich sehr!

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