“Jetzt zu trauern bedeutet eine Potenzierung von Einsamkeit”

Sterbebegleitung und Trauerarbeit in Zeiten der Pandemie – im Gespräch mit Dr. Christine Pfeffer, Leiterin des ambulanten Hospizdienst im Erwachsenen Hospiz Stuttgart.

Frau Dr. Pfeffer, Sie begleiten schwerkranke Menschen und ihre Angehörigen in den eigenen vier Wänden. Wann beginnt Ihr Einsatz in der Regel? 

Grundsätzlich begleiten wir Menschen in einer palliativen Situation. Ich drücke es oft so aus: „Wir begleiten Menschen, deren Lebensende sich am Horizont abzeichnet“. Wir möchten die Erkrankten und ihre Angehörigen so individuell wie möglich begleiten und deshalb wünschen wir uns, dass unsere Ehrenamtlichen und die hauptamtliche Koordinatorin die Betroffenen einige Wochen oder vielleicht sogar Monate vor dem Lebensende kennen lernen können – nicht erst ganz kurz vor dem Tod. Wenn man sich kennenlernt, kann sich eine vertrauensvolle Beziehung bilden und wir können uns besser auf die individuellen Bedürfnisse einstellen.

Nach einer Anfrage besucht unsere hauptamtliche Koordinatorin und Palliative-Care-Fachkraft die Betroffenen zu Hause. Gemeinsam mit der oder dem Erkrankten und den An- oder Zugehörigen überlegen wir, welche Unterstützung hilfreich sein könnte: Wir beraten zum Beispiel zur Pflege oder zur Symptomlinderung, regen unter Umständen an, einen Pflegedienst oder das SAPV-Team hinzu zu ziehen, sprechen über weitere Entlastungsmöglichkeiten und sind bei Bedarf mit dem Hausarzt im Austausch. Gerade in längeren Pflegesituationen sind die Angehörigen oft erschöpft und haben lange die eigenen Bedürfnisse zurückgestellt, um für den kranken Angehörigen zu sorgen. Hier können unsere geschulten Ehrenamtlichen entlasten. Sie kommen zum Beispiel, um mit den Kranken oder den Angehörigen zu sprechen: Über schöne Themen wie einen vergangenen Urlaub oder Hobbies, aber auch über Sorgen, Trauer und Ängste. Manchmal auch, um nicht zu sprechen, sondern einfach nur „da zu sein“. In manchen Fällen sind kleine Spaziergänge möglich, Vorlesen ist gewünscht oder ein Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel.

Es geht darum, für die Betroffenen da zu sein – auch damit die Angehörigen gehen können (zum Arzt, zum Einkaufen oder um sich mit einer Freundin zu treffen). Dabei achten wir darauf, dass die Ehrenamtlichen gut zu den Betroffenen passen, sich Vertrauen und idealerweise eine Beziehung bilden kann. Wir suchen meist Ehrenamtliche, die vielleicht den gleichen Beruf oder ein ähnliches Hobby haben, damit es Anknüpfungspunkte gibt. Für einen sehr musischen Menschen würden wir zum Beispiel eine ebenfalls musikalische Ehrenamtliche auswählen – einfach, damit es passt.

In einer konkreten Sterbephase intensivieren wir bei Bedarf die Begleitung. Durch unsere 24-Stunden-Rufbereitschaft ist eine hauptamtliche Koordinatorin und Palliative-Care-Fachkraft immer erreichbar. Vielen Betroffenen gibt das Sicherheit: Wenn eine Situation eintritt, in der Unterstützung notwendig ist, wissen sie, dass wir zu erreichen sind.

Was hat sich seit Beginn der Corona-Pandemie konkret verändert?

Glücklicherweise ist es uns gelungen, trotz der Corona-Pandemie für alle Menschen in einer palliativen Situation, die Begleitung wünschten, da zu sein. Wir haben unseren Dienst über die ganze Zeit – auch in der großen Unsicherheit am Anfang der Pandemie – aufrechterhalten und unterstützt, wo es nötig war.

Aber natürlich hat sich auch Manches verändert: Wir sind mit Blick auf die Betroffenen sehr vorsichtig und testen die MitarbeiterInnen zum Beispiel vor jedem Hausbesuch. Die unvermeidliche Maske, die während der Hausbesuche getragen werden muss, macht eine vertrauensvolle Kommunikation etwas schwieriger, denn sie verdeckt einen Teil der Mimik – aber ein Austausch ist trotzdem immer noch gut möglich. Inzwischen haben wir uns ja auch alle ein Stück weit an die Kommunikation mit Maske gewöhnt.

Wir bedauern sehr, dass wir unsere Supervisionsgruppen für die ehrenamtlichen SterbebegleiterInnen derzeit nicht mehr in Präsenz durchführen können. Aber gleichzeitig sind wir froh über die digitalen Möglichkeiten. Ich sage immer: “Zu Zeiten der Spanischen Grippe hätten wir uns nur Briefe schreiben können …”

Es ist eine dauernde Anpassung an den Pandemieverlauf und die sich ändernden Vorschriften. Aber Hospizarbeit ist vom Grundsatz her immer flexibel. Wir kriegen das gut hin!

Trauer ist ein sehr individueller Prozess. Wie wird die Trauerkultur Ihrer Erfahrung nach durch die Pandemie beeinflusst?

Schon vor der Pandemie hatten wir eine große Zahl von Anfragen Trauernder, die sich Unterstützung wünschten. Mit der Pandemie haben sich noch sehr viel mehr Trauernde an uns gewandt. Zum einen mussten viele Menschen erleben, dass sie ihre Angehörigen nicht so im Sterben begleiten konnten, wie sie das gewollt hatten. Zum Beispiel gab es Besuchsbeschränkungen in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern. Nicht so begleitet zu haben, wie sich die Trauernden das in der konkreten Sterbesituation wünschten, hinterlässt bei vielen Trauernden Schuldgefühle mit denen sie sich quälen und mit denen sie alleine nicht zurechtkommen.

Zum anderen verstärkt der freiwillige oder verordnete Rückzug ins Private, die Reduzierung der zwanglosen Kontakte im Verlauf der Pandemie das Gefühl von „Vereinsamung“ bei vielen Trauernden zusätzlich deutlich. Trauernde sind schon zu normalen Zeiten oft im schmerzlichen Gefühl des Alleinseins gefangen, aber nun ist es sozusagen verdoppelt: Treffen im Freundeskreis sind nicht mehr zwanglos möglich, viele Veranstaltungen, die vielleicht einen Moment der Ablenkung bedeutet hätten, finden nicht statt, Nachbarn und Bekannte ziehen sich Corona-bedingt zurück, Familienfeste werden abgesagt.  Jetzt zu trauern bedeutet eine Potenzierung von Einsamkeit.

Haben Sie einen Wunsch an die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft?

Die Krankenkassen und die Stadt Stuttgart unterstützen unsere Arbeit in der Sterbebegleitung. Dies ist sehr hilfreich. Leider gibt es aber keinerlei finanzielle Unterstützung für die Trauerarbeit, d.h. für die verschiedenen Trauergruppen, Einzelbegleitungen, die Kreativangebote, das Wandern für Trauernde usw. Die Begleitung in der Trauer ist ein wichtiges Präventionsangebot, denn Menschen, die mit ihrer Trauer nicht zurechtkommen, werden nicht selten krank. Die Trauerarbeit braucht dringend ein finanzielles Fundament.

Frau Dr. Pfeffer, vielen Dank für Ihre Antworten und alles erdenklich Gute für Ihre weitere Arbeit!

Foto: Hospiz Stuttgart

Beitragsfoto: pixabay, Public Domain

Mirjam Hübner
Mirjam Hübner
mirjam.huebner@online.de

Mirjam Hübner ist Diplom-Journalistin und Kommunikationstrainerin. Sie berät die Evangelischen Frauen in Württemberg in Fragen der Online-Kommunikation und der Pressearbeit. In ihrer Freizeit wandert und liest sie gerne – am liebsten mehrere Bücher gleichzeitig.

Keine Kommentare

Kommentar schreiben