Wie geht es Frauen in Frauenhäusern während der Coronakrise? Ein Interview

Interview mit Alexandra Gutmann zur Lage des Frauen- und Kinderschutzhauses der Mitternachtsmission Heilbronn:
Mit den bestehenden Ausgangsbeschränkungen und der damit einhergehenden Isolation von Familien, auf zum Teil engsten Raum, wird von vielen Experten ein Anstieg häuslicher Gewalt und damit eine erhöhte Nachfrage für Beratungsangeboten und Schutzunterkünften für Frauen und Kinder befürchtet.
Alexandra Gutmann hat uns einen Einblick in die sehr wertvolle Arbeit und die aktuelle Lage in der Beratungsstelle sowie im Frauen- und Kinderschutzhaus der Mitternachtsmission Heilbronn gegeben. Seit 25 Jahren leitet sie die seit 1955 bestehende Mitternachtsmission Heilbronn.

Frau Gutmann, an wen richtet sich die die Heilbronner Mitternachtsmission im Bereich Frauen- und Kinderschutzhaus?
Zunächst richtete sich die aufsuchende Arbeit an Frauen, die in der Nachkriegszeit der Prostitution nachgingen. 1979 wurde das Frauen- und Kinderschutzhaus (FKSH) mit Beratungsstelle und geschütztem, anonymem Wohnraum, eröffnet. Seitdem bietet es gewaltbetroffenen und gewaltbedrohten Frauen eine schützende Notunterunterkunft. Gewalt ist aus unserer Sicht nicht nur physisch eine Gefahr für die Frauen und Kinder. Auch psychische, sexuelle, soziale und ökonomische Gewalt sehen wir als Bedrohung für die Frauen und Kinder, die in unserer Notunterkunft und unserer Beratungsstelle Hilfe suchen. Wir haben insgesamt 20 Plätze im FKSH, bestehend aus 7 Wohneinheiten für 7 Frauen und ihre Kinder. Als eine der wenigen Anlaufstellen sind wir rund um die Uhr erreichbar und aufnahmebereit, am Wochenende und nachts allerdings vorwiegend für Stadt und Landkreis Heilbronn. Aus dem Grundverständnis unserer christlichen Werte möchten wir niemanden abweisen und sind aus diesem Grund meist eher überbelegt. Es ist in letzter Zeit auch schon vorgekommen, dass wir gewaltbedrohte Frauen für eine Nacht in die Küche des FKSH einquartieren mussten. Am nächsten Tag können wir sie dann weitervermitteln an ein Haus mit freien Kapazitäten. Dies ist eine unhaltbare Situation und für keine Person wirklich tragbar. In Deutschland braucht es diesbezüglich viel mehr politisches Vorangehen – insbesondere was die Förderung des Ausbaus der Frauenhäuser angeht.
Neben der Aufnahme in das FKSH bieten wir auch Unterstützung in Form einer ambulanten Beratung und Begleitung von gewaltbedrohten und betroffenen Frauen. Zum Beispiel in den Fällen, wo es für den Partner einen Platzverweis gegeben hat, was meist einen langen Prozess mit sich zieht und eine intensive Begleitung der betroffenen Frauen bedarf.

Mit unterschiedlichen Projekten engagieren Sie sich auch über die Erstberatung und Aufnahme hinaus wie z.B. mit der Nachsorge „Continue“ oder Unterstützung von Kindern mit „Hoffnungsträger“. Können Sie uns dazu noch etwas erzählen?
Wir betreuen im Jahr mehrere hundert Frauen mit einem 95 % Stellenanteil. Damit haben wir natürlich nur sehr begrenzte Ressourcen. Bei dem Auszug aus dem FKSH sind die Bedarfe an Unterstützung besonders hoch, da die Frauen und Kinder in dem Moment nicht mehr geschützt sind.
Mit „Continue“ begleiten wir die Frauen seit gut einem Jahr intensiv in der Phase nach dem Auszug aus der Notunterkunft. Zum einen sorgen wir uns gemeinsam mit ihnen um die technische Sicherheit in der neuen Wohnung, wie zum Beispiel um einbruchsichere Schlösser etc., zum anderen um die soziale Vernetzung mit Verbänden und Vereinen. Auch seelsorgerisch werden die Frauen weiterhin von uns begleitet. Es ist uns ein Anliegen, in diesen Fällen Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Die Bedürfnisse dafür sind sehr unterschiedlich. Einige Frauen, die zum Beispiel vor oder nach einer Zwangsheirat fliehen brauchen sehr viel mehr Unterstützung, auch im Hinblick auf die fehlende Selbständigkeit und die mangelnde Unterstützung durch das soziale Umfeld.
Mit dem Projekt „Hoffnungsträger“ bieten wir eine Interventionsstelle für die Kinder der gewaltbetroffenen Frauen. Auch Kinder erleben diese Gewalt und brauchen eine Begleitung. Statistisch gesehen, wird mindestens die Hälfte der Kinder, die Gewalt in der Familie erfahren haben, später selbst Opfer oder Täter häuslicher Gewalt. Mit unserem Projekt bieten wir den Kindern eine Ansprechperson und einen Raum, in dem das Erlebte spielerisch und erlebnispädagogisch aufgearbeitet werden kann. Es ist sehr wichtig auch die Kinder in dieser Zeit zu unterstützen und ihnen neue Hoffnung zu geben.

Wie lange bleiben die Frauen und ihre Kinder durchschnittlich in dem FKSH?
Die Verweildauer der Frauen in der Notunterkunft ist sehr unterschiedlich. Manche der Frauen gehen relativ bald wieder zu ihren Partnern zurück, einfach, weil die Entscheidung zu einer Trennung noch nicht gereift ist. Mit dem kurzen Aufenthalt in dem FKSH ist ihnen aber schon einmal bewusst geworden, welche Hilfen sich für sie bieten, viele kommen dann später wieder. Wenn die Entscheidung zu einer Trennung gefallen ist, liegt die reguläre Verweildauer bei 3-6 Monaten und kann bei Traumatisierungen oder geringer Selbständigkeit auch länger sein. Ein großes Problem für den nächsten Schritt in die Selbstständigkeit ist die aktuelle angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt. Die gemeinsame Wohnungssuche ist für die Mitarbeiterinnen die frustrierendste Aufgabe und es ist sehr schwierig, den Frauen hier Hoffnung an die Hand zu geben. Aus der Not heraus, gehen einige auch wieder zurück zu den Partnern, weil sie keinen Ausweg sehen. Es besteht dadurch also die Gefahr, in das Alte zurückzukehren. Wir freuen uns natürlich über jeden Auszug in eine eigene Wohnung, auch, weil wir dann noch mehr gewaltbetroffene Frauen und Kinder aufnehmen und ihnen Schutz und Hilfe bieten können. Unsere guten Beziehungen zur Wohnungsbaugesellschaft sind ein Trost, aber auch hier sind die Angebote sehr begrenzt. Es bräuchte gute Konzepte von der kommunalen Seite. Wir haben sehr viele Ideen wie zum Beispiel ein Nachsorgehaus, das man bei verfügbarem Budget und Personal aufbauen könnte.
Können Sie uns über die Hintergründe der von Ihnen begleiteten Frauen etwas erzählen?
Gewalt gegen Frauen und Bedrohung von Gewalt betrifft alle Altersklassen, junge wie ältere Frauen und zieht sich durch alle Schichten und alle Kulturen. Es unterscheidet sich nur die Art und Weise der Unterstützung. In unserem FKSH haben wir einen verhältnismäßig hohen Anteil an Migrantinnen und Frauen mit geringerem Bildungsabschluss, sie zeigen aber nicht den Durchschnitt für die von Gewalt betroffenen Frauen. Frauen mit höherem Bildungsabschluss und ohne Migrationshintergrund verfügen oft über ganz andere Ressourcen wie soziale Kontakte und Wissen über Hilfsangebote und können in vielen Fällen, und wenn es aus Schutzgründen ausreichend ist, gut ambulant betreut werden.

Welche Rolle spielt die missionarische Tätigkeit in Ihrer Arbeit?
Die missionarische Arbeit ist die Grundlage unserer Arbeit, auch als Team. Wir leben eine sehr intensive christliche Gemeinschaft, in der wir uns und unsere Zielgruppen jeden Tag unter Gottes Schutz stellen, an Wunder glauben und um die schützende Hand Gottes beten. In dem Team des FKSH arbeiten überwiegend sehr junge Mitarbeiterinnen die täglich so eine Leidensbereitschaft tragen und sich auch mit sorgen um viele Menschen, dies tun sie mit Gottes Beistand. Wir sprechen mit den Frauen bewusst über den Glauben auch wenn Sie einer anderen Religion angehören. Der Glaube, wie zum Beispiel ein Tischgebet, ist im Alltag immer begleitend, aber in aller Freiheit. Und wir haben Angebote wie z.B. Gottesdienstbesuche oder unser Frühstückstreffen mit biblischer Andacht; die aktuelle Themen der Frauen aufgreift. Es ist jeder Frau freigestellt dies aktiv mit zu leben.

Wie erleben Sie die derzeitige Situation der Corona-Krise? Welche Veränderungen hat es für die Beratungsstellen und das FKSH gegeben?
Unsere persönliche Beratung mussten wir auf Telefonberatung umstellen, aber vorwiegend bei den Frauen, die schon länger von uns begleitet werden. Bei akut von Gewalt betroffenen Frauen ist eine Beratung telefonisch sehr schwierig. Die Frau möchte in der Situation auch mich als Beraterin sehen, denn es ist ein unglaublicher Vertrauensschritt die beratende Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es ist auch sehr schwierig Empathie übers Telefon zu vermitteln. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen ist dies ohnehin schwierig, wenn man nicht mehr tröstend die Hand auf die Schulter legen darf. Mit den Frauen, die man länger kennt, machen wir auch mal Spaziergänge, es sind kreative Ideen gefragt!

Die Zahl der neuen Fälle für die Beratungsstelle sind in der Zeit seit der Corona-Krise zurückgegangen, aber die Anzahl der akuten Fälle für das FKSH hat deutlich zugenommen. Trotz des weiterhin bestehenden Problems der Überbelegung haben wir seitdem zehn Frauen aufgenommen, obwohl wir im Hinblick auf die Infektionsschutzvorgaben eigentlich unterbelegen und jedes zweite Zimmer frei lassen sollten. Aber was mache ich da? Soll ich der Frau sagen, sie soll bei ihrem Mann bleiben? Wir haben jetzt eigeninitiativ einen Rahmen geschaffen, um den gewaltbetroffenen Frauen Platz und Schutz zu bieten. Es braucht derzeit einfach mehr Räume und mehr Personal. Für die eigen getragenen Zusatzkosten im fünfstelligen Bereich haben wir bisher immer noch keine Auskunft, wer uns das alles bezahlt. Wir haben Isolationsräume eingerichtet und Ausweichquartiere angemietet, um die Frauen vor der Ansteckung zu schützen und auch um für erkrankte Frauen einen Quarantäneort vorzuhalten. Aber natürlich ist die Sicherheit an diesen Orten nicht so gegeben wie in dem FKSH, dazu braucht es mehr Begleitung und präsentere Unterstützung durch uns Mitarbeiterinnen. Die Frauen brauchen im Hinblick auf die Infektionsschutzvorgaben Begleitung z.B. zu Behörden. Wir kaufen für sie mit Hilfe von Ehrenamtlichen nach ihrer Einkaufsliste ein und versuchen so gut wie möglich Außenkontakte für sie zu vermeiden, um das Infektionsrisiko zu senken. Wir arbeiten alle derzeit weit über unsere Grenzen hinaus! Es ist auch ohne die Corona-Krise sehr schwierig mit den begrenzten personellen Ressourcen klar zu kommen. Nun braucht es noch mehr Präsenz, außerdem arbeiten wir – um den Betrieb bei einer Infektion im Team aufrecht erhalten zu können – mit rotierenden zwei Wochen Schichten vor Ort bzw. telefonisch aus dem Home-Office.

Wie gehen die Frauen mit der kritischen Situation um? Wie sieht ihr Alltag derzeit aus?
Die Frauen und Kinder leiden natürlich sehr unter der Situation und der „neuen“ Unfreiheit im engen Raum. Neben der Angst vor Corona sind viele auch sehr herausgefordert mit der Kinderbetreuung, sie sind ja nun alleinerziehend und es gibt keine externen Betreuungsmöglichkeiten wie KiTa etc. Wir machen viel gegen den „Lagerkoller“, weil sie viel da sind und kaum rauskommen. Die Frauen haben vor Ort natürlich nicht die Möglichkeiten wie in ihrem eigenen Zuhause ihr Hobby auszuführen oder, wie viele andere Menschen in dieser Zeit, ihren Keller zu entrümpeln. Sie sind mit dem Notdürftigsten bei uns angekommen, haben natürlich nicht ihre Nähmaschine oder ihre Aquarellstifte dabei. Aber wir geben unser Bestes und bieten derzeit viel mehr Angebote und Unterhaltung auch in Form von Kinderspielzeugen und Materialien. Bei einer Neuaufnahme müssen die Frauen vorerst zwei Wochen bei uns in Isolation. Das bildet natürlich eine Hemmschwelle für den Einzug und die Inanspruchnahme unserer Hilfe. Wir als Mitarbeiterinnen leben sehr solidarisch mit den Frauen und haben unser privates Leben sehr runtergefahren, um den Frauen und Kindern Schutz zu bieten. Das schätzen die Frauen wirklich sehr.
Wir versuchen die Situation positiv und kreativ aufzufangen. Kürzlich hat eine unserer ehrenamtlichen Helferinnen ein Wohnzimmerkonzert im FKSH gegeben. Das war eine sehr schöne Abwechslung. Wir erhalten derzeit auch sehr viele Hilfen in Form von Sachspenden. Es gibt keinen einzigen Hilfeschrei unsererseits, der nicht erhört wurde. Es wurden Masken genäht und Lernmaterialien geschickt. Es geschieht unglaublich viel Tolles in dieser Zeit.

Was würden Sie sich jetzt von der Politik und der Kirche wünschen?
Ich wünsche mir, dass die Misere, in der sich die Frauen- und Kinderschutzhäuser befinden, nicht nur auf Corona geschoben wird. Zu wenig Plätze in den Notunterkünften gibt es schon lange. Zu wenig Beratungsressourcen gibt es schon lange. Es ist unwürdig eine Frau aufzunehmen und sie auf einer Matratze schlafen zu lassen, weil kein Regelplatz da ist. Die Wohnsitzauflage misshandelter Frauen mit Fluchthintergrund verhindert ihre sofortige unbürokratische Vermittlung in auswärtige Frauenhäuser – auch bei Hochbedrohung. Das ist inakzeptabel, gefährlich und ein Missstand, auf den wir schon sehr lange hinweisen.
Es ist sehr begrüßenswert, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kranken- und Pflegesystem derzeit hohe Anerkennung genießen. Ich wünsche mir neben der Forderung nach neuen Rahmenbedingungen im Gesundheitssystem auch neue Rahmenbedingungen im sozialen Wesen. Eine 95 Prozent Stelle für die ambulante Beratung misshandelter Frauen in Stadt und Landkreis Heilbronn reicht bei Weitem nicht aus, um die gewaltbetroffenen Frauen aufzufangen. Wir arbeiten auch ohne Corona immer am Limit!
Die Istanbul Konvention muss in Deutschland – denn Deutschland hat ratifiziert – in geltendes Recht gegossen und jetzt auch praktisch umgesetzt werden. Es ist schön das bundesweite Hilfetelefon zu haben, aber es braucht auch ausreichend Frauenhausplätze dazu. Hätten wir schon vorher genügend Notunterkünfte gehabt, wäre die Corona-Krise ganz anders handhabbar gewesen und hätte uns nicht in diese missständliche Lage gebracht.
Wir sind sehr dankbar dafür, dass die Kirche immer sehr präsent ist. Wir sind auch finanziell von der Kirche mitgetragen, viele beten für uns. Die Kirche sollte auch weiterhin Position für Entrechtete einnehmen.
Ein wichtiges Thema, das in der Diskussion um Gewalt gegen Frauen nicht vergessen werden sollte, ist die Täterarbeit. Nichts rechtfertigt die häusliche Gewalt, aber es ist auch wichtig, für die Täter da zu sein und die Ursachen zu ergründen am besten, bevor es zum Gewaltakt kommt. In dieser Hinsicht sind wir alle gefordert. Wenn wir bei unseren Bekannten und Verwandten merken, dass dort familiäre Not besteht, und Aggressionen erwachen, so sollten wir dies gezielt ansprechen und auf Beratungsstellen hinweisen. Es ist wichtig, die Menschen nicht alleine zu lassen und auch für die offen zu sein die in Not geraten sind.

Wir danken Frau Gutmann sehr herzlich für den Einblick!!
Das Interview führte Elsa Böld, Referentin Kirche und Gesellschaft, EFW

Weitere Informationen:
Gottesdienst aus Heilbronn – Du bist nicht allein – Interview Alexandra Gutmann
Jahresbericht 2019 der Mitternachtsmission

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