Warum wir als Christinnen die Pflicht haben, zur Wahl zu gehen

Am 26. Mai sind Europa- und Kommunalwahlen für uns hier in Baden-Württemberg. Denkwürdig daran: 2019 ist es 100 Jahre her, dass Männer und Frauen das erste Mal gemeinsam zur Wahl gehen konnten und gleichberechtigt ihre Stimme abgaben.

Langer Kampf für Gleichberechtigung und Demokratie

Das gemeinsame Wahlrecht von Männern und Frauen ist eine Errungenschaft, der ein langer Kampf voraus ging. Starke Frauen haben sich über lange Jahre auf unterschiedlichste Weise dafür eingesetzt, dass mit dem Frauenwahlrecht in Deutschland endlich der Grundstein für Gleichberechtigung gesetzt werden konnte.

Sie gründeten Frauenvereine, forderten bessere Bildungschancen für Frauen, traten Parteien bei und forderten am ersten Internationalen Frauentag im Jahr 1911 lautstark ihr Recht auf das aktive und passive Wahlrecht ein.

Die Motivation war einfach: eine Demokratie, die ohne die Beteiligung von Frauen stattfand, das war lediglich eine halbe Demokratie!

1919 endlich durften dann auch wir Frauen das erste Mal wählen gehen! Diese Möglichkeit nutzten über 80 Prozent der weiblichen Bevölkerung – eine geradezu traumhafte Wahlbeteiligung, die in dieser Form heute kaum mehr vorstellbar ist. Zum Vergleich: Bei der Europawahl 2014 lag die Wahlbeteiligung in Deutschland lediglich bei 47,9 Prozent. Das heißt, mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger gingen nicht zur Wahl. Dabei kämpften die Frauen für das Frauenstimmrecht, damit endlich die GANZE Bürgerschaft partizipieren konnte. Was für ein Verlust für Europa und unsere Demokratie!

Und heute: “Die da oben hab ich nicht gewählt” 

Wir kennen sie alle, Kommentare wie „Die da oben hab ich nicht gewählt“ oder „Ist doch ohnehin alles das gleiche, wozu soll ich da wählen gehen“.

Hier ist er spürbar: der Verdruss über Politik, die an eigenen Bedarfen und Erfahrungen vorbei geht, das Gefühl, dass sich nichts ändert, ganz egal wie und ob ich mich entscheide, ob ich mich einbringe und partizipiere, ob ich selbst wählen gehe.

Gerade in Bezug auf die europäische Politik herrscht ein immenser Unmut vor, dessen Höhepunkt die Entscheidungen rund um den Brexit waren und sind. Auch in den Kirchen war die europaweite Zusammenarbeit schon weitaus intensiver – viele religiöse Institutionen werden wieder „nationaler“, mit der verstärkten Abschottung der Länder folgt quasi automatisch die Abschottung der Kirchen von ihren europäischen Nachbarländern.

Haben wir aus unserer Geschichte nichts gelernt?

Dabei sollten gerade wir in Europa wissen, dass nationale Abschottung und ebensolche Ambitionen gefährlich sind: wer, wenn nicht wir Deutschen wissen, wozu die Unterteilung in „wir“ gegen „die“, in „gut“ gegen „schlecht“, in „arisch“ gegenüber „nicht-arisch“ führt. Nationalismus ist ausgrenzend und funktioniert gerade dann, wenn er ein Feindbild gefunden hat.

Europäer statt “Deutsche”

Die Europäische Gemeinschaft dagegen versucht, auch ganz unterschiedliche Kulturen und Traditionen zusammenzubringen. So ist sie seit vielen Jahrzehnten Garant für den Frieden in Europa.

Indem Länder, die nah beieinander liegen, statt Konkurrenten zu Freunden wurden und eng zusammenarbeiten, ist etwas bis dahin eigentlich Unvorstellbares gelungen: Wir leben friedvoll miteinander und haben viele Menschen unter uns, die sich selbst eher als „aus Europa kommend“ betrachten denn als „Deutsche“.

Errungenschaften des heutigen Europas

Es gibt Reisefreiheit, ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit, eine gemeinsame Währung … wir als EU sind zusammengewachsen. Und mit diesem Zusammenwachsen haben sich auch gemeinsame Werte herausgebildet. So zum Beispiel der Schutz vor Gewalt für alle Männer und Frauen sowie das Recht auf ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Würde.

Unsere Demokratie ist leider in Gefahr!

Die demokratische Grundordnung ist aber schon lange unter Beschuss: In vielen europäischen Ländern machen sich autoritäre wie antidemokratische Stimmen breit und gefährden damit unsere grundsätzlichen Werte.

Wie kann es eigentlich sein, dass solche Strömungen Oberwasser bekommen – obwohl wir doch aus unserer Geschichte gelernt haben sollten, wie wichtig Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind? Brauchen wir die EU nicht ALLE als tragfähigen Verbund? Was passiert aktuell in Europa, dass antidemokratische und gegen unsere christlichen Grundwerte gerichtete Meinungen so viel Gehör finden können?

Komplexität und Ungerechtigkeit als Nährboden

Moderne Entwicklungen scheinen es mit sich zu bringen, dass viele Menschen gefühlte oder tatsächliche Ungerechtigkeit erleben. Zugleich ist ihre “eigene Welt” komplexer geworden und wird von einer unüberschaubaren und nicht greifbaren Menge an Einflussfaktoren bestimmt.

In den Auswirkungen der Digitalisierung sehen wir uns einer ungefilterten Informationsflut gegenüber – die Menschen haben häufig das Gefühl, sich vor dem “Overload” schützen zu müssen. Viele tun das, indem sie sich in ihren eigenen „Filterblasen“ bewegen – das bedeutet, sie beziehen Nachrichten fast exklusiv über die sozialen Netzwerke, also vorgefiltert durch die eigenen Freunde. Das ist einfacher, als selbst zu sortieren, was wichtig ist und was nicht.

In dieser Tendenz zur Vereinfachung liegt eine Gefahr für populistische Strömungen: Statt komplizierte Hintergründe zu recherchieren und sie verstehen zu müssen, hören wir lieber simple Botschaften, welche die Welt und unsere Probleme vermeintlich schnell und einfach erklären. Wir haben damit das Gefühl, wenigstens einem Teil gesellschaftlicher Strukturen eine Ordnung zuweisen zu können.

Einfache Schuldzuweisungen

Es scheint daher einfacher, „jemandem“, zum Beispiel „der EU“ die Schuld zuzuschieben und damit eine Erklärung für alle unsere Probleme zu haben, als tiefgründig die Vielzahl der uns beeinflussenden Faktoren zu analysieren und daraus dann Konsequenzen zu ziehen. Das ist einer der Gründe, weshalb populistische und antieuropäische Kräfte seit längerem große Erfolge verzeichnen können.

Weitere Gründe können hier nur angerissen werden:

– Große wirtschaftliche Differenzen zwischen den verschiedenen EU-Ländern

– Eine stark um sich greifende “Früher war alles besser”-Mentalität mit Affinität zu ebenso rückwärtsgewandter Politik. Damit entsteht der Nährboden für die Wirksamkeit von Stammtischparolen

– Die politischen und gesellschaftlichen Folgen von Migration. Wir Menschen haben grundsätzlich erst einmal Angst vor allem Fremden, auch wenn es nach einem Kennenlernen keinen Grund dafür geben mag. Die Migration nach Europa hat dazu geführt, dass nationale Grenzen wieder stärker bewacht und kontrolliert werden. Das aber widerspricht der Idee von einem Europa, von einer europäischen Gemeinschaft.

Im Umgang mit Migration sind wir als Christinnen besonders gefragt

Gerade beim Thema Migration sind wir als Christinnen gefragt: Das Christentum wird von Populisten gerne auf den Begriff „christliches Abendland“ reduziert und damit instrumentalisiert. Doch was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Wie so oft hilft ein Blick in die Geschichte. Die Bezeichnung „christliches Abendland“ ist entstanden in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg – als in einer tief gespaltenen Gesellschaft verschiedene gesellschaftliche Gruppen nach gemeinsamen Wurzeln suchten. Es ging dabei um die Betonung verbindender Werte und einen Zusammenhalt durch Gemeinsamkeit.

Heute wird der Begriff leider gerade NICHT zur gemeinsamen Definition von Zusammenhalt genutzt, sondern als Abgrenzung gegenüber der muslimischen Welt. So propagiert zum Beispiel PEGIDA („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) die „Verteidigung“ westlicher Kultur.

Auch die Fakten sprechen für sich: 70 Prozent der Menschen in Baden-Württemberg sind christlich geprägt, die restlichen 30 Prozent sind konfessionslos oder gehören anderen Religionen an.

Welche biblischen Geschichten liegen unseren Werten zu Grunde?

Die Urerfahrung finden wir explizit im 5. Buch Moses. Es geht darin um das Erleben, auf der Flucht zu sein, Hilfe zu erfahren, die Aufforderung, Fremden zu helfen und auch um die Umverteilung von Gütern. Diese Umverteilung – durch Besteuerung und Abgaben – ist auch die Grundlage unseres heutigen Sozialstaats.

Das Thema von Flucht und Verfolgung zieht sich weiter, zum Beispiel mit Jesus, Gottes Sohn. In Matthäus 2, 13-15 wird Josef aufgefordert, mit Frau und Kind nach Ägypten zu fliehen.

Grundthemen und Urerfahrungen der biblischen Menschen sind also: Flucht, Not, Rettung aus existenzbedrohenden Situationen. Daraus entwickelt sich für uns eine Ethik der Gerechtigkeit, Solidarität, Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Diese Werte sind zwar nicht exklusiv christlich, zählen aber zu unseren christlichen Grundwerten!

Durch diese Grundwerte und durch das Gebot der christlichen Nächstenliebe sollte für uns als Christinnen und Christen klar sein, dass wir uns nicht daran beteiligen, wenn Hass geschürt wird und friedliches Zusammenleben dadurch gefährdet.

Wir Christinnen und Christen sollten und müssen aktiv gegen Hass und Ausgrenzung sein. Wir müssen unsere Demokratie und den Frieden bewahren und uns dafür einsetzen.

Das heißt:

– Es ist unsere Pflicht als Christinnen, zur Wahl zu gehen und demokratische Parteien für Europa zu wählen. Damit wir dazu beitragen, den europäischen Frieden zu bewahren und die Nächstenliebe wahrhaftig zu leben.

– Es ist unsere Pflicht wählen zu gehen, damit wir undemokratischen, populistischen Parteien, die fern aller christlichen Werte agieren, den Nährboden entziehen.

Gehen Sie also in Ihrem Verständnis als Christin, Demokratin und als Botschafterinnen der Gleichberechtigung zur Wahl!

Scheuen Sie sich dabei nicht vor Diskussionen – auch nicht mit Andersdenkenden oder Andersgläubigen. Nur so können eine schlagkräftige Demokratie und ein starkes Europa bestehen.

Der Text entstand in Anlehnung an das Politische Montagsgebet am 6. Mai in Rottenburg-Ergenzingen auf der Liebfraunhöhe.

Fotos:

Beitragsbild: Deutscher Frauenrat, weitere Bilder: pixabay, pexels Public Domain

Saskia Ulmer
Saskia Ulmer
saskia.ulmer@elk-wue.de

Saskia Ulmer ist Landesreferentin bei den EFW und zuständig für den Bereich Kirche und Gesellschaft. In Ihrer Freizeit, sofern sie diese nicht mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann verbringt, ist sie gerne sportlich aktiv. Dabei genießt Saskia Ulmer es, sowohl in der Natur Kraft zu tanken als auch in einem Teamsport Gemeinschaft und Spaß zu erleben.

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